Was für ein Morgen!
Wach wurden wir von einer aufstehenden Schlafzimmertür, auf dem bett rumtapsenden Katzen, einem Hörbuch, welches durch die gesamte Wohnung brüllt und ganz schlechter Stimmung.
Der erste Gedanke war, wow was für ein scheiß geht denn hier ab und ah ich könnt nur heulen!
Heulen weil das Hörbuch durch die Wohnung schallt und weil die Katzen ihre Chance wahrgenommen haben und nun nervigst ihr Futter verlangen?
Nee! Heulen, weil der Bruder Geburtstag hat, weil man ihn unglaublich vermisst und weil man nicht verstehen und begreifen will, das es nicht gut ist Kontakt zu haben.
Nachdem wir also aufgestanden sind, die Katzen gefüttert haben, eine lauthalse Diskussion mit dem Sohnemann geführt haben, darüber wie man sich Sonntags morgens verhält und das es nicht okay ist, wie es heut gelaufen ist, er uns nur noch mehr auf die Palme gebracht hat mit ignorantem Verhalten und wir richtig wütend wurden, sitzen wir nun auf der Couch und heulen uns die Augen aus.
Er fehlt uns so sehr!
Früher war er ein Teil von uns, unser engster Verbündeter, unser Überlebenselexier. Heute sind wir uns fremd und fern, haben uns nichts mehr zu sagen, haben nichts mehr gemeinsam, leben unterschiedliche Leben und haben keine Ahnung mehr davon, wie es dem anderen geht.
Er fehlt uns so sehr!
Am liebsten möchten wir zu ihm fahren, uns entschuldigen und um Verzeihung bitten, rückgängig machen was wir zerstört haben! Würde er uns verzeihen?
Er hasst uns und gleichzeitig wissen wir, liebt er uns genauso sehr wie wir ihn.
Es tut so weh!
Er fehlt so sehr!
Er, der er früher einmal gewesen ist. Er, der uns früher zu essen brachte, wenn wir kurz vorm verhungern waren. Er, der uns vor anderen Kindern die uns ärgerten beschützt hat, der sich das ein oder andere mal vor unsere Mutter gestellt hat, wenn sie mal wieder grundlos auf uns losgegangen ist, obwohl er wusste, dass er dafür die Schläge und Demütigung abkriegen würde, das er derjenige sein würde, der am Ende zusammengekrümmt in irgendeiner Ecke liegen würde und sich vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte, obwohl er genauso viel Angst hatte diese Prügelattacke nicht zu überleben.
Er war derjenige, der uns, nachdem er unsere Schläge kassiert hat, beruhigte und immer wieder wiederholte, dass alles gut sei und es ihm gut gehen würde und das nur damit wir uns beruhigen konnten. Er hat auf uns aufgepasst, soweit er das konnte und hat selbst, mehr als einmal, dafür alles abbekommen.
Er fehlt uns so sehr!
Er hat uns gezeigt das er uns liebt, hat uns getröstet, beruhigt und aufgepasst.
Er war stolz auf uns. Er fand, das er eine hübsche und intelligente Schwester hat. Das hat er uns nie gesagt, seine Freunde haben es uns erzählt. Er war stolz auf uns!
Und gleichzeitig war da etwas ganz anderes. Wir haben gelernt Täter aneinander zu werden. Uns gegenseitig zu verletzen, zu unterdrücken und zu erniedrigen! Wir haben uns gegenseitig bespitzelt und verraten, hintergangen und belogen!
Dann, mit unserer Flucht aus dem Haus unserer Mutter, änderte sich alles zwischen uns.
Er fing an uns zu hassen. Dafür, das wir vor ihm gegangen sind, ihn allein bei der Mutter zurückgelassen haben und das ohne ihm etwas davon zu sagen.
Damit haben wir seine Pläne durchkreuzt. Er ist älter, hätte vor uns das Haus verlassen müssen, hat sich danach gesehnt endlich gehen zu können. Das konnte er dann nicht mehr. Er hat es nicht geschafft, aus der uns aufgedrängten Verantwortung für die Mutter, auszusteigen und ist geblieben. Viel länger als er wollte, weit über seine Volljährigkeit hinaus!
Dafür macht er uns verantwortlich. Wir sind schuld!
Schuld an so vielem!
Bis heute hat er es nicht geschafft wirklich auszusteigen. Wir wissen nicht viel über seine Gedanken, eigentlich nichts. Denn wirklich gesprochen haben wir, seit wir von zuhause abgehauen sind, nicht mehr. Das ist nun fast 13 Jahre her! Wir können also für vermuten. Seit Jahren ist er im Ausland. Wir hoffen, dass das seine Art der Flucht ist, sein Weg Abstand zur Familie und der RiGaG zu haben, seine Chance ein eigenes Leben aufzubauen.
Gleichzeitig hält er Kontakt, schaut nicht hin, will nichts wissen, nichts sehen. Er verdrängt und verleugnet.
Und das steht zwischen uns und wird wahrscheinlich auch immer zwischen uns stehen. Wir können nicht mehr wegsehen, können nicht mehr aushalten, können nicht mehr gute Miene zum bösen Spiel machen. Und ganz wichtig, wir wollen auch nicht mehr! Wir wollen die Tradition unserer Familie nicht fortsetzen, wollen er nicht an die nächste Generation, also unseren Sohn, weitergeben. Wir können nicht mehr auf Familientreffen zusammensitzen und lächeln, wenn innerlich alles schreit und man nur noch kotzen möchte und dem Zusammenbruch bedrohlich nah steht. Wir möchten und können uns die Lügen unserer Familie nicht mehr antun. Dort gibt es nichts was ehrlich ist! Dort gibt er keinen ehrlichen liebevollen Umgang miteinander. Dort gibt es Hass, Verachtung, Lügen, Intrigen. Alles Dinge die wir nicht mehr ertragen können und wollen.
Dennoch sehnen wir uns nach unserem Bruder. Dem Bruder der er mal war, der er auch irgendwo tief in sich noch ist.
Wir wissen das auch bei ihm Anteile da sind die uns lieben und uns sehr vermissen. Wahrscheinlich ist es das was uns zerreißt! Dieses Wissen das es ihm genauso geht! Dieses Wissen, dass er zuhause sitzt und hofft wir würden uns melden, ihm sagen wie es uns geht (obwohl er die Antwort nicht hören wollen würde, er erträgt sie nicht), ihm zu seinem Geburtstag gratulieren und ihm sagen das wir ihn sehen möchten.
Danach sehnt er sich genauso sehr wie wir.
Das tut weh! Es zerrt an uns, zerreißt und lässt uns verzweifeln.
Wie gerne würden wir…
Aber es geht nicht. Es geht nicht, weil er noch immer zur Familie hält, weil er uns nicht verstehen will, weil er er nicht aushalten kann, weil wir nicht miteinander reden können. Es geht nicht, weil er es nicht schafft, kein Täter mehr zu sein. Weil er uns jedes Mal wieder daran erinnert, wie falsch wir uns verhalten, was wir für eine schlechte Tochter sind, wie schuldig wir sind, wie falsch und schlecht wir sind. Daran was wir alles nicht geschafft haben, wie falsch unser Weg ist und was wir alles besser machen könnten.
Er erinnert uns an unsere familiären Pflichten, unsere Pflichten gegenüber der RiGaG!
Und dennoch, es tut weh und er fehlt uns so sehr!
Wir werden uns nicht nicht melden können. Das schaffen wir (noch) nicht!
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